Ja, in diesem Haus lebte vor langer Zeit des Gretchen mit den langen, rabenschwarzen Zöpfen. Wir sassen zusammen im gleichen Schulzimmer, zuerst in dem der gestrengen Frau Kronauer, dann, im Schulhaus nebenan, in dem des milderen Walter Günter. Weil wir uns mochten, durfte ich das Gretchen ungestraft an seinen Zöpfen ziehen. Dafür liess ich es etwa beim Versteckenspielen oder beim Klettern an der Kletterstange gewinnen, und ich überreichte ihm kleine Geschenklein: es schöns Chräueli, Heugeli oder einen Schleckstengel, den ich beim "Emil Geiser" oder "Max Iff" hatte ergattern können. Robert Roth, Do isch doch Aube, Benteli Verlag 1985 Es ist inzwischen einige Jahre her, als ich aufgrund der Unterlagen zur Neugestaltung des Wuhrplatzes in Langenthal auf den Autor Robert Roth stiess. In seinen beiden Bücher "D'Langetu chunnt" (1978) und "Do isch doch aube..." (1985) erinnerte sich der Autor an Menschen und Begebenheiten, die in den 20er- und 30er-Jahren in Langenthal Geschichten geschrieben hatten. Doch was hat Robert Roth mit obigem Foto zu tun? Das Foto fand ich vor einem Jahr im persönlichen Fotoalbum meines verstorbenen Grossvaters und mich beschlich sofort das Gefühl, dass mit dem Foto eine Verbindung zu Roths Erinnerungen bestand.
Robert Roth wurde im Oktober 1919 in Langenthal geboren und wuchs mit seinen Eltern und seinem Bruder Hermann an der Bützbergstrasse auf. Im Haus nebenan wohnte damals der Kreisgeometer Weber mit seiner Frau und den beiden Töchtern Dori und Lucie. Und da war noch der "Herr Lehme-Hung", der durch die grossen Gartenanlagen der Villa Lehmann (heute Altersresidenz Lindenhof) streifte. Die stattliche Dogge gehörte Samuel und Marie Lehmann, ein wohlhabendes Ehapaar, das Ländereien und Plantagen in Guatemala besass. Später besuchte Robert Roth im Kreuzfeld die Primarschule und befreundete sich mit seiner Klassenkameradin Gretchen Lüthi. In der selben Klasse war auch der "Haudeler" Walter Siegfried, der später Schweizer Meister im Fliegengewicht wurde und erfolgreichster Schweizer Boxer an der Olympiade 1936 in Berlin war. Nach Beendigung der Sekundarschule dürfte Roth das Gretchen aus den Augen verloren haben. Er durchstreifte als Jüngling zu Fuss oder auf dem Fahrrad Ungarn, Jugoslawien, Schweden, einen Teil der Sahara und die unwegsamen Pripjetsümpfe, die heute zu Russland gehören. Er studierte in München und floh im April 1943 mit seiner Braut Rita wieder zurück in die Schweiz und war später im Hauptberuf als Statistiker tätig. Doch was hat Robert Roth nun schlussendlich mit obigem Foto zu tun? Die zentrale Person ist das Mädchen auf dem schwarzen Pony. Sie fiel mir bereits auf einem anderen Foto meiner Familie in's Auge: Zusammen mit meiner Urgrossmutter und zwei Schwestern meines Grossvaters posierte sie vor dem Berner Münster. Doch niemand in meiner Familie konnte mir sagen, wer dieses Mädchen war. Es war zwar bekannt, dass jener Familienzweig in engem Kontakt zur Familie Lüthi in der Wuhr stand, doch die Existenz von Gretchen war damals niemandem bekannt. Erst der Text von Robert Roth weckte in mir jenen Verdacht, der durch das Foto im Album meines Grossvaters noch zusätzlich genährt wurde. Ich beschloss, das Foto sorgfältig aus dem Album zu trennen und traute meinen Augen kaum: Die Rückseite war vollständig beschrieben. Die Entzifferung der Handschrift erwies sich aber als schwierig, da die Ränder beschnitten und grosse Flächen durch Leimflecken nicht mehr lesbar waren. Doch schlussendlich gelang es, die Textfragmente zu entschlüsseln und der Verdacht wurde zur Klarheit. Es war am Freitag, den 8. Februar 1924. Die Geschwister meines Grossvaters, Elise, Marie, Werner und Karl, wollten ihrer grossen Schwester Rosa einen Besuch abstatten. Sie feierte an jenem Tag ihren 19. Geburtstag, doch der Besuch kam aus unbekannten Gründen nicht zustande. Begleitet wurden die Geschwister von Gretchen Lüthi, die auf ihrem schwarzen Pony ritt. Das Pony war schon lange im Besitz ihrer Familie und immer lieb zu den Kindern. Gretchen hatte den gleichen Jahrgang wie Karl, der wiederum ein Tag älter als Robert Roth war. Es ist durchaus möglich, dass der jüngste Bruder meines Grossvaters mit Robert, Gretchen und Walter Siegfried die gleiche Schulklasse besuchte. Die Umstände, wie das Foto entstand, sind nicht bekannt. Die Wintersonne stand schon tief, so dürfte es am Nachmittag aufgenommen worden sein. Als Fotograf kommt Josef Gschwend in Frage, der zwischen 1901 und 1938 sein eigenes Geschäft in der damaligen "Neuen Post" führte. Der Schatten des Fotoapparat ist sogar auf dem Foto unten links zu erkennen. Die Rückseite des entwickelten Fotos wurde anschliessend mit Glückwünschen und einigen Informationen zu jenem 8. Februar vollgeschrieben. Ob Rosa die Glückwunschkarte jemals zu Gesicht bekam, ist nicht bekannt. Das Foto gelangte schliesslich in das Fotoalbum meines Grossvaters, wo es 90 Jahre später dem Gretchen Lüthi aus Robert Roths Erinnerungen ein Gesicht gab. Robert Roth wurde 67 Jahre alt und starb im Juni 1986. Margret "Gretchen" Lüthi überlebte Robert um 19 Jahre und starb im Dezember 2005 mit 86 Jahren. Walter "Wale" Siegfried, der am gleichen Tag geboren wurde, wie seine Klassenkameradin, siedelte in den 40er-Jahren in die USA aus. Er trat der US-Army bei und diente im Koreakrieg. Er starb im April 2002 mit 83 Jahren in Arizona.
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AutorTinu Lehme Archiv
Juni 2021
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